Bücher mit sieben Spiegeln
Richard Jochums „Minimal Literature" wird in diesem Semester im Einstein Forum ausgestellt
von Marcel Kirf
Schlimmer kann es nicht mehr werden. Es kann noch schlimmer werden. „Das hat mir den Tag gerettet“ habe eine Mitarbeiterin des Hauses ihm anerkennend zugeraunt, berichtet Richard Jochum, selbst leicht irritiert. Der Mann ist Mitte dreißig, schwarz gekleidet und gleich wird die Ausstellung seiner „Minimal Literature“ im Einstein Forum eröffnet, in dessen Foyer er steht. Die widersprüchliche Prophezeiung ist der Titel zweier dialektisch korrelierender Arbeiten des Österreichers, die das Entree in seine Kunst bilden. Auf zwei an der Wand hängenden, metallenen Schalen liegt je ein quadratisches Büchlein. Ein Deckblatt schwarz, das andere weiß. „Schlimmer kann es nicht mehr werden“ prangt auf dem einen. Wird es aufgeschlagen, liest man auf der einzigen bedruckten Seite „Es kann noch schlimmer werden“. Bei dem anderen ist es umgekehrt.
Vierzehn Objekte dieser Art sind im Treppenhaus und in zwei Räumen der Bel Etage des Einstein Forums am Neuen Markt gehängt. Bücher, Hefte, Bögen, Blätter. Druckwerke, sorgfältig von Hand und in kleiner Auflage produziert. Die Aufmachung, das Material, die Erscheinungsform orientieren sich an der jeweiligen Botschaft. Text fungiert als Auslöser. Sorgfältig gewählt und auf das Nötigste reduziert beendet er nicht die Diskussion: er entfacht sie.
Richard Jochum „nimmt das Buch in seiner Faktizität ernst, nimmt Bücher beim Wort, und Worte wörtlich“, befindet der bekannte Berliner Galerist und Kunsttheoretiker Peter Funken in seiner Vernissage-Laudatio, nennt Jochum einen „Reduktionisten“ und einen „ausgewiesenen Wissenschaftskünstler“. Letzteres bezieht sich auf dessen Werdegang. Der gebürtige Vorarlberger studierte zunächst Philosophie in Innsbruck, alsdann Theaterwissenschaften, Kunsttheorie und Buchdesign und absolvierte nach einer Promotion auch noch das Studium der Bildhauerei in Wien, welches er mit ausgezeichnetem Diplom abschloss.
Sein Projekt „Minimal Literature“, für das zwischen 1991 und 1999 vierzig Objekte entstanden, fußt auf Richard Jochums philosophischer Weltinterpretation, dem Wunsch zu verstehen und Kommunikation (wieder) zu ermöglichen. Eine Mischung aus Faszination und Irritation an der Realität bewegte ihn einst zur „Bücherflucht“: Das Viel-zu-viel des Gedruckten gebar Irritation, das Darin-Versanden potentiellen Inhaltes Haltlosigkeit, die Gesamtintegrität des Ich im Allerlei schwächend. Doch die Faszination am Buch als Ideenträger, als „temporärer Ruhestätte des Wissens“ und Mittler von Text blieb. Faszination ebenso, wie am haptischen Erleben des Mediums, an der graphischen Identität eines Druckbandes, jener Skulptur aus Papier, Pappe, Gaze, Leim und Leinen sowie an der Notwendigkeit des aktiven Erschließens, durch Halten und Umblättern einer intimen Dramatik des Verbergens und Entdeckens folgend.
Seine konkrete Konklusion bedeutete eine Abwendung vom Konventionellen. Als anachronistisch entlarvte Schriftexzesse wichen in Jochums Werk der Aussage, die des Fabulierens nicht mehr bedurfte, sondern nurmehr des überlegten Einsatzes von Worten. Die „Leseregel“ (1996) ist ein kleines rotes Buch, in dem ein Satz steht: „Schuld ist die Regierung“. Wissenschaftliche Papierverschwendung, das selbstreferentielle Schreiben und Abschreiben für Semesterapparate nimmt „Lenk, eine Sammelrezension“ (1995) auf. Dem Text „Lenk hat eine brave/ gut ausgereifte/ Weltanschauung“, welchem auf einem zweiten Blatt die Aufzählung anderer Autorennamen folgt, für die das selbe gelte, ist ein seitenlanger bibliographischer Nachweis der besprochenen Bücher angehängt. „Jedes Ding hat drei Seiten“ (1999) enthält vier nummerierte Seiten, wohingegen „Dasselbe gilt für dasselbe“ (1994) bereits den formalen Imperativ sprengt: Eine Pappschachtel enthält einen Satz, (Spiel-) Karten, und auf allen liest man „Die Karten noch mal und ganz neu mischen“.
Jochum spielt mit dem „vierten Moment“ des Buches, dem Imaginären. Das Nicht-Gesagte ist nicht minder mächtig wie das Fixierte. Der initiative Schubser in die persönliche Enzyklopädie eines Rezipienten ist gewaltiger als das Vorkauen einer abgeschlossenen Erzählung. Wie bedrohlich wirkt allein der „Laufpass“ (1997)? Im bordeauxroten Identifikationsdokumentenstil der EU aufgemacht, fordern die Zeilen „von...“, „für...“ im Inneren zum Gebrauch auf. Und niemand ist sicher, ob nicht er dereinst unfreiwilliger Empfänger werden könnte. Die Kunst wirkt fort. Dabei ist Jochum deren eingeschränkter Wirkung gewahr. Er versteht Kunst als „parasitäre Aktivität“ – nicht die kontrollierte Indoktrination, die Gehirntätowierung von Meinungen vermag sie, sondern eine schleichende Veränderung des umfassenden Systems, glaubt er, des Wirtes mithin. Vulgo: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Richard Jochum, Minimal Literature, zu besichtigen bis zum 13. Oktober im Einstein Forum, Am Neuen Markt 7.
(Potsdamer Neueste Nachrichten 8.5.2002)